Diese Datei nutzen Du musst, Master File
Mit der Masterfile Recherchen in einem Dokument sammeln: Investigativ, sowie tagesaktuell
In dieser Woche geht es wieder um ein Organisationsthema: Wie sortiere und sammele ich alle Informationen meiner Recherchen, die aktuell so anfallen? Das ist eiberseits für Nachrichtenjournalisten ein schwieriges Thema, weil täglich zum Teil mehrere Themen anstehen und im Blick behalten werden müssen. Zum anderen ist es auch bei längeren, investigativen Themen eine Herausforderung.
Ich bin nach einem Workshop mit den beiden Investigativjournalisten Luuk Sengers und Mark Lee Hunter dazu übergegangen, alle Recherchen in der Regel in einem einzigen Dokument zu sammeln und dieses Dokument per Zwischenüberschriften zu strukturieren. Die Technik habe ich ein wenig adaptiert, damit sie auch für den Nachrichtenalltag praktikabel ist. Die ganze Technik fußt auf der Methode “Story Based Inquiry”, die eben aus der Langfristrecherche kommt und es möglich macht, schon während der Recherchen in Szenen und Hypothesen zu denken.
Sowohl das Hauptwerk “Story-Based Inquiry” kann ich nur empfehlen zu lesen, als auch die beiden kleineren Handbücher “Hidden Scenario” und “The Story Tells The Facts”.
Jetzt aber zur Masterfile!
Was? Ein simples Schreibdokument, es kann Word sein oder - wie in meinem Fall - Google Docs.
Warum? Weil ich dadurch sowohl bei längeren Recherchen als auch im Alltag alles in einem Dokument habe und nicht zwischen dutzenden Fenstern hin- und herspringen muss.
Wie? Grundsätzlich habe ich zwei Vorlagen für Dokumente: Eines für investigativere Recherchen, eines fürs tagesaktuelle. Der Clou ist: Man gliedert das eine Dokument durch Überschriften und lässt sich den Navigationsbereich immer anzeigen. Dann kann man simpel zu den einzelnen “Kapiteln” / “Themen” springen.
Langfristige Recherchen
Dafür ist es notwendig, sich ein wenig mit der Technik von Seengers und Hunter zu beschäftigen, warum man das Dokument in verschiedene Zwischenüberschriften einteilt. Grundsätzlich hat mein Dokument folgende “Kapitel”:
Titel
Hypothese
Chronologie
Fakten
Offene Fragen
Szenen
Kontakte / Gesprächsprotokolle
Quellen
Was dahinter steckt erkläre ich ganz unten am Ende des Newsletters in einem Extra, jetzt geht es erstmal mit der Vorlage für die tagesaktuellen Recherchen weiter.
Tagesaktuelle Recherchen
Auch für den täglichen Gebrauch setze ich auf eine Art “Masterfile”. Dabei ist jedes Thema eine eigene Recherche. Warum? Weil zwischendurch immer wieder Rückrufe oder Mails kommen und ich dadurch alle meine aktuell laufenden Recherchen im Blick behalte.
Also:
Jedes Thema ist eine Überschrift
Gesprächsnotizen, Protokolle, Fakten von jeweils einer Quelle markeire ich farblich, so sehe ich schnell, wo eine Info anfängt und aufhört.
Jede Woche ein neues Dokument. Am Ende der Woche wird ausgemistet: Welches Thema hat sich erledigt? Welches Thema ziehe ich mit in die nächste Woche (copy & paste), welches Thema verfolge ich erstmal nicht weiter, behalte ich aber für später? (Kopieren in ein neues Dokument: Langfristrecherchen - das ist dann quasi auch so ein Dokument und Themenablage, wo man immer mal schauen kann, welches Thema man evtl nochmal aufgreift).
To Dos, Nachfragen, Warten auf Antworten werden so am Ende der Woche nochmal gesichtet und können in die To Do-App eingetragen werden. Dadurch behält man den Überblick über laufende Recherchen und Projekte.
Am Ende der Woche wird das abgearbeitete Dokument in einen “Recherche”-Ordner bei Pinpoint geladen. Da kommen sowieso ja auch Audiomitschnitte, Landtagssitzungen, Dokumente, etc. rein. Warum? Durch die KI-Suche bei Pinpoint baue ich so ein Recherchearchiv auf. Per Suche nach einem Begriff bekomme ich dann alle Infos ausgespuckt: Neben Dokumenten oder Mitschnitten eben auch meine Notizen zu Telefonaten, etc. Damit hat man dann auch ein persönliches durchsuchbares Archiv, in dem Dinge stehen, die nicht veröffentlicht worden sind in fertigen Texten.
Anwendungsbeispiele?
Investigative Recherchen + Szenen und Reportagen
Umfragen bei verschiedenen Behörden im Lokalen / Regionalen
Tagesaktuelle Berichterstattung
Wo?
Jedes Schreibprogramm, ich selbst nutze Google Docs
Wie teuer? Kostenlos
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EXTRA: Was hinter den Kapiteln für die langfristigen Recherchen in der Masterfile steckt:
Hypothese: Weniger für nachrichtliche Themen, sondern wirklich eher für langfristige Erzähl- und / oder Investigativgeschichten. Die H. verändert sich im Verlauf der Recherche natürlich und wird dem aktuellen Sachstand angepasst. Sie hilft gerade bei komplexen Themen den Überblick zu behalten. Nach jeder neuen Informationen, jedem Dokument, jedem Gesprächspartner gehört die H. auf den Prüfstand gestellt. Wenn man später seine Geschichte schreibt (oder für’s Radio / Fernsehen / sonst ein Medium produziert) hilft die H. dabei, aus dem Wust von Informationen den Kern seiner Geschichte zu finden und sich darauf zu konzentrieren und nicht noch 30+x Nebenschauplätze aufzumachen.
Chronologie: Das Eintragen in die Tabelle hilft dabei, bei komplexen Sachverhalten genau zu wissen, was wann passiert ist. Wenn Interviewpartner erzählen geht es meist ja immer um Handlungen, die in der Vergangenheit lagen. Durch die C. behält man den Überblick und sieht so auch relativ schnell, wo Informationen fehlen, wo noch etwas unklar ist und wie genau sich ein Ereignis (stellenweise gibt es Ereignisse, die sich ja über Jahre ziehen, wie etwa Prozesse) abgespielt hat.
Fakten: Die wichtigsten Fakten trage ich hier noch einmal gesondert ein (auch wenn sie später noch einmal in Gesprächsprotokollen oder Dokumenten auftauchen). Dabei geht es darum, dass man sich einfach einen schnellen Überblick über die wichtigsten Fakten macht. Wer hat z.B. einen Vertrag unterschrieben? Wer hat den Verkauf getätigt? Welche Miliz kämpft gegen welche Miliz in Aleppo? Wer sind die Anführer? etc. Jeder Fakt ist mit einer Quelle (Q##) belegt. Jede Quelle wird am Ende eingetragen (s.u.) Ist ein Fakt später unklar, kann man so schnell sehen, woher die Info stammt und im Zweifelsfall noch einmal nachrecherchieren und kontrollieren. Außerdem kann man so auch zügig sein Dokument durchsuchen, um z.B. alle Informationen zu finden, die von Q## sind.
Offene Fragen: Der Fragenkatalog, gegliedert nach Themenbereichen und / oder Gesprächspartnern. Die Fragen können im Laufe der Recherche herausgelöscht werden, wenn sie beantwortet sind. So weiß man immer, was noch fehlt und was nicht und kann z.B. übersichtlich alle Fragen an Experten (“Wie funktioniert eigentlich so eine Maschine?”) untereinander schreiben.
Szenen: Allein dieses Kapitel bräuchte ein wenig mehr Erklärungsbedarf. In aller Kürze kann man so aber bei komplexen und auch bei Erzählgeschichten schon im Rechercheprozess überlegen, wie eine Geschichte am Ende laufen könnte. Gerade als ich noch für das Radio gearbeitet habe, habe ich viel in Szenen und Themenblöcken gearbeitet. Schon bei der Recherche überlege ich mir, welche Szenen ich eigentlich habe und ordne Informationen, Dokumente, Interviewpassagen schon den einzelnen Szenen zu. Das führt dazu, dass ich später beim Schreiben, v.a. wenn es schnell gehen muss, im Handumdrehen Szenenblöcke parat habe, die ich je nach Dramaturgie aneinander schiebe. Damit wird man in der Regel keinen Nannen-Preis gewinnen, aber häufig muss im Tagesgeschäft ja schnell gehen. Und wer noch Zeit hat zu feilen und sich eine komplexe Dramaturgie zu überlegen, dem werden vorher strukturierte Szenen sicherlich auch helfen. An einem Beispiel gesprochen kann man sich bei einer Geschichte über einen Mordprozess etwa vorstellen, dass es beispielsweise die Szene “Tat” gibt, dann noch das “Vorleben des Täters”, das “Vorleben des Opfers”, die Beziehung der Beiden, wie etwa “das erste Treffen”, etc.
Kontakte / Gesprächsprotokolle: Hier sammele ich im zunächst mal alle Gesprächspartner mit Kontaktdaten, die für eine Recherche wichtig sein könnten. Experten, die sich mit dem Thema auskennen, Anwälte, für die Geschichte wichtige Freunde / Bekannte von Hauptpersonen, uvm. So behalte ich auch den Überblick, wen ich schon gesprochen habe oder wen ich noch sprechen muss. Anschließend kann man bei den Gesprächen, sei es telefonisch oder live, seine Notizen direkt in die Datei einfügen (mit Datum und Uhrzeit jeweils, weil man manche Gesprächspartner ja auch häufiger spricht). Wichtige Informationen können dann anschließend entweder in die “Szenen” oder in die “Fakten” oder die “Chronologie” kommen. Die Gesprächsnotizen bleiben aber am Ende des Dokuments bestehen, dass man die Informationen nicht verliert, falls man später noch einmal Nachfragen hat, etwas nachrecherchieren muss oder man die Recherchen später mit einem anderen Dreh wieder aufnimmt.
Quellen: Jede Quelle ist einmalig. Jeder Gesprächspartner, jedes Dokument, jede Kopie, jedes Buch, jeder Link wird hier aufgeführt (Q##). Das schützt einen Journalisten einmal davor, dass er später nicht weiß, woher eine Information ist, zum anderen ist er später auch nicht angreifbar, wenn seine Recherchen in der Kritik stehen. Außerdem macht es das bei wirklich langfristigen Recherchen auch für den abnehmenden Redakteur einfacher, wenn er Fragen hat, woher eine Information stammt. Erneut: Bei heiklen Quellen, die einen gewissen Schutz bedürfen, kann man an dieser Stelle auch einfach ein “Anonym XYZ” einfügen, solange man sich selbst über die Identität der Quelle im Klaren ist.
Fußnoten: In den Fußnoten habe ich – abgekupfert von Mark Lee Hunter – noch drei Suchbefehle eingefügt. Wann immer man gerade beim ordnen der Rechercheergebnisse ist, kann man diese Befehle als Anmerkungen einfügen:
NOTX – Sind Anmerkungen / Notizen / Gedanken zu bestimmten Sachverhalten (z.B.: “Das ist extrem seltsam, weil Q03 gesagt hat, dass es so ist”). Dadurch vermischt man nicht Rechercheergebnisse mit eigenen Gedanken
QTN – Kleine offene Fragen zu bestimmten Sachverhalten (z.B. “Kann das wirklich stimmen? Wie war das Wetter in der Mordnacht?”)
DOX – Eine kleine Todo-Liste zu bestimmten Informationen (z.B.: “Info gegenchecken bei Q03).
Die Buchstabenkombinationen kommen so eigentlich in keinem normalen Wort vor. Mit der Suchfunktion von Word lassen sich also schnell alle Notizen, offenen Fragen und vor allem ToDo’s einfach und schnell finden.
Die Datei hilft nicht bei den Recherchen, aber dabei, seine Recherchen und Gedanken zu sortieren. Und es zeigt mal wieder: Journalismus ist Handwerk.